Zur Physiologie des weiblichen Geschlechts

Rosa Mayreder, 1899

Jedermann glaubt ein Recht zu haben, über die Frauenbewegung sein Urtheil abzugeben, ein Urtheil a priori, kraft persönlicher Neigungen, persönlichen Geschmackes, persönlicher Lebensstellung, auf Grundlage einiger entfernter Vorstellungen von der Sache, die höchstens durch jenen bekannten Stellvertreter positiver Kenntnisse, den »gesunden Menschenverstand«, vermittelt sind. Dass die Frauenbewegung heute ein Gebiet ist, über das man unterrichtet sein muss, wenn man darüber urtheilen will, ohne die ältesten Standpunkte wieder breit zutreten, scheint grösseren Kreisen noch unbekannt zu sein. So werden die Vertreter der Frauenbewegung genöthigt, stets von Neuem mit den Elementargegenständen ihres Faches zu beginnen; denn es gibt keinen Einwand, und wäre er auch für die Unterrichteten längst widerlegt und abgethan, den der gesunde Menschenverstand nicht immer wieder mit aller Selbstgewissheit, die ihm eigen ist, neu entdecken würde. Zu den beliebtesten dieser Einwände gehört der Hinweis auf die grosse physiologische Verschiedenheit der Geschlechter. MUSS es nicht auch dem Mindergebildeten einleuchten, dass es Unterschiede im Bau des männlichen und des weiblichen Körpers gibt? Und ist diese Thatsache nicht ein vernichtendes Dokument gegen alle Bestrebungen der Frauen, die auf die Freiheit der individuellen Entwicklung abzielen?

Ja, es ist wahr und nicht zu vertuschen: Mann und Weib repräsentieren physiologisch zwei verschiedene Typen der Art. Sollte in der That jemals eine »Vorkämpferin« der Frauenbewegung in der Lage gewesen sein, diese Thatsache zu leugnen? Die ganze ältere Literatur der Frauenbewegung ist voll von theoretischen Erörterungen, wie weit dieser physiologische Unterschied hinübergreife in die psychische Oekonomie des einzelnen Individuums, und welche Consequenzen für die sociale Stellung sowie für die fernere intellektuelle Entwicklung des weiblichen Geschlechtes daraus zu ziehen sind. Man bemühte sich, aus den grossen Verschiedenheiten, die in der Lebenshaltung der Frauen in vergangenen Zeiten und noch heute bei den einzelnen Völkern bestehen, die relative Nebensächlichkeit jener physiologischen Eigentümlichkeiten des weiblichen Körpers zu zeigen; man wies darauf hin, dass vielfach gerade diejenigen Beschäftigungen, die innerhalb der europäischen Cultur als die ausschliesslich männlichen betrachtet werden, anderwärts von Frauen ausgeübt werden und bei vielen Völkern die Frauen Ackerbauer, Lastträger, ja sogar Krieger sind; man griff nach Beispielen aus dem Thierreich, man führte die Leistungen weiblicher Rennpferde, weiblicher Jagdhunde ins Treffen, um zu beweisen, dass das weibliche Geschlecht an sich weder eine Inferiorität noch überhaupt eine Verschiedenheit der Lebensbethätigung bedinge; man stellte die Elephanten als Muster auf, die als Führer an die Spitze ihrer Heerden das tüchtigste Individuum wählen, gleichviel, ob es männlichen oder weiblichen Geschlechtes ist – ja man kam sogar auf den Bienenstaat, diese merkwürdigste Organisation, welche die Natur hervorgebracht hat, und die beweist, dass sich das weibliche Princip von Natur aus auch zur absoluten Herrschaft entwickeln kann.

Doch als die Frauenbewegung die Kinderschuhe ausgetreten hatte, begann man einzusehen, wie unnütz und dilettantisch alle diese Hinweise auf andere Lebensformen sind. Ueberdies. ist es klar, dass alle theoretischen Erörterungen – wiewohl sie manche Proben glänzender Logik und polemischer Kraft des weiblichen Verstandes geliefert haben – unfruchtbar bleiben mussten, solange sie sich bloss in der Form allgemeiner Behauptungen bewegten. Die Bedeutung und den Umfang jener physiologischen Unterschiede festzustellen, war eine Aufgabe der Wissenschaft; Gewissheit darüber konnten nur exacte Beobachtungen und Untersuchungen geben.

Allein es ging mit der wissenschaftlichen Feststellung nicht viel besser als mit den theoretischen Argumenten. Da es sich in erster Linie um den Nachweis der durch das Geschlecht bedingten geistigen Inferiorität des Weibes handeln sollte, suchte man den bestimmenden Factor im Gehirne. Sattsam bekannt ist der Fall Bischoff, jenes Münchener Professors, der die Lehre von dem geringeren Gehirngewicht des Weibes in die Welt setzte, eine Lehre, die durch eine Laune der Natur ironisirt wurde; denn es stellte sich nach seinem Tode heraus, dass sein Gehirn noch um 5 Gramm weniger wog, als das Durchschnittsgewicht des weiblichen Gehirnes nach seiner Angabe betragen sollte. Diese Lehre behauptete sich geraume Zeit. Man übersah dabei, dass es Thiere gibt, deren Gehirn weit schwerer wiegt als das schwerste Männergehirn, dass das Weib im Verhältniss zu seinem gesammten Körpergewicht durchschnittlich mehr Gehirn besitzt als der Mann, dass überhaupt die blosse Menge des Gehirnes für die geistigen Leistungen nicht in Betracht komme. Erst im Jahre 1883 wies Professor Brühl in Wien endgültig die Unhaltbarkeit der Bischoffschen Theorie nach. An die Stelle des Gewichtes trat nun ein Scheitellappen auf den Kriegsschauplatz. In seiner Form und Furchung glaubte man das charakteristische Geschlechtsmerkmal des Gehirnes erblicken zu dürfen. Aber auch die Theorie des Scheitellappens ging den Weg aller irdischen Erkenntnisse; und gegenwärtig glaubt kein Anatom, irgend einen durch das Geschlecht bedingten Unterschied im Baue des Gehirnes nachweisen zu können.

Dieser kurze Rückblick auf einen Theil der wissenschaftlichen Forschung, die hier in Betracht kommt, zeigt, dass auch hier keine zuverlässige Sicherheit in der Auslegung der Thatsachen herrscht. Trugschlüsse, Voreingenommenheiten und übereilte Verallgemeinerungen bezeichnen den Weg, den die Wissenschaft hier gegangen ist Gegenwärtig besitzt man ein reiches, mit Fleiss und unparteiischer Sachlichkeit gesammeltes Material über die sogenannten secundären Geschlechtsunterschiede – eine ausgezeichnete Uebersicht darüber gewährt das Werk »Mann und Weib« von Dr. Havelock Ellis, aus dem Englischen übersetzt von Kurella. Aber Alles, was aus diesem Material zu holen ist, besteht in der Einsicht, dass die Unterschiede in der individuellen Differenzirung grösser sind als in der generellen, dass aus den Percentsätzen keine allgemein gültigen Normen abzuleiten sind, dass man die grösste Vorsicht in den Schlussfolgerungen beobachten muss, wenn man sich nicht in die Gefahr unhaltbarer und irrthümlicher Behauptungen begeben will, dass auf Grund physiologischer Ergebnisse die Gesellschaft – nicht das Recht habe, nach dem Geschlechte dem einzelnen Individuum Schranken der persönlichen Bethätigung zu setzen, noch auch endgültig darüber zu entscheiden, welche Stellung innerhalb der Culturentwicklung dem Weibe »durch die Natur« angewiesen sei. Man weiss heute, dass auch die gewissenhafteste Feststellung der physiologischen Geschlechtsunterschiede nicht dazu beitragen kann, das Problem der Frauenbewegung irgendwie zu lösen; denn nicht um diese Feststellung handelt es sich, sondern um die Schlüsse, die daraus zu ziehen sind.

Alle theoretischen Schlüsse aber sind unsicher. Nur eine auf dem uneingeschränkten Experiment beruhende Erfahrung wird der Culturwelt Gewissheit darüber bringen können, wie weit die Frauen fähig sind, sich zu variiren und neuen Existenzformen anzupassen. Die Anhänger der evolutionistischen Weltanschauung erkennen in der Eröffnung neuer Thätigkeitsgebiete für die Frauen zugleich die Bedingungen für das Auftreten eines neuen Frauentypus, und sie begrüssen in dem Individuum, das die Normen bricht und kraft seiner Eigenart über die hergebrachten Formen des Lebens hinausstrebt, den Träger neuer Entwicklungsmöglichkeiten. Die Anhänger der Frauenbewegung aber erblicken gerade in dem durchgreifenden physiologischen Unterschied zwischen Mann und Weib das beste Argument für ihre Bestrebungen; welche Thätigkeit ein Weib auch ergreifen mag, es kann nie seine Weiblichkeit gefährden, denn die Weiblichkeit bleibt unter allen Umständen die Eigenheit des weiblichen Körpers. Jede Stellung und Bethätigung, die den Frauen jemals zukommen kann, wird sich immer nach den immanenten Gesetzen ihrer Natur reguliren.

Deshalb ist es ganz überflüssig, die Frauen auf ihre »Natur« zu verweisen und sie vor Versündigungen dagegen zu warnen. Was gegen die Natur ist, kann sich nicht lebendig behaupten. Das Leben allein wird uns lehren können, ob die Natur mit uns ist oder nicht.

(Quelle: Mayreder, Rosa (1899): Zur Physiologie des weiblichen Geschlechts. – In: Dokumente der Frauen : Halbmonatsschrift, Nr. 3, S. 66 – 69)

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