Nachwort zur Frauenbewegung

Rosa Mayreder, 1930

Man glaubt im allgemeinen, die Frauenbewegung sei eine schon historisch gewordene Erscheinung. Denn die gesetzliche und soziale Gleichberechtigung mit dem Mann haben die Frauen erreicht – und diese Gleichberechtigung bildete ja die hauptsächliche Forderung der Frauenbewegung. Es wäre aber ganz irrig, anzunehmen, daß zugleich alles, was ihren ideellen Inhalt bildete, eine abgetane Sache sei.

Man kann die Frauenbewegung der Hauptsache nach auf zwei Ursachen zurückführen, die nicht miteinander verwechselt werden dürfen – auf eine ideelle und auf eine materielle. Die ideelle Ursache liegt in der Entwicklung des Persönlichkeitsbewußtseins bei den Frauen, die materielle Ursache in den wirtschaftlichen Veränderungen, die durch die Maschine herbeigeführt wurden.

Nicht ganz mit Unrecht hat man die Maschine als die größte Förderin der Frauenbewegung bezeichnet. Durch die Maschine, die den Großbetrieb an die Stelle der Erzeugung im Kleinen setzte, ist die Bedeutung der Frau als wirtschaftliche Produzentin vernichtet worden. Die Hausfrau früherer Jahrhunderte, die bei unbeschränkter Kinderzahl die meisten Bedarfsartikel selbst herzustellen, oder doch unter erschwerten Bedingungen herbeizuschaffen hatte, war wirtschaftlich unersetzlich. Die moderne Hausfrau hingegen ist als wirtschaftlicher Faktor nahezu überflüssig. Im Proletariat hat der maschinelle Großbetrieb die Frau völlig aus dem Hause gedrängt; im Bürgertum war schon in den letzten Jahrzehnten des neunzehnten Jahrhunderts die Vorbereitung der Mädchen ausschließlich auf die Versorgung durch die Ehe eine Kurzsichtigkeit. Denn sobald für den Mann ein so wichtiger Beweggrund zum Heiraten wie die hauswirtschaftliche Tätigkeit der Frau wegfiel, mußte die Neigung zur Eheschließung auf seiten der Männer abnehmen.

Dazu kam, daß sich überall in den Städten ein absoluter Überschuß an Frauen einzustellen begann. In Deutschland belief sich schon vor dem Kriege die Zahl der unverheirateten Frauen auf zwei Millionen, darunter ungefähr eine halbe Million überzähliger. Seither hat sich der Prozentsatz bekanntlich noch sehr zu ungunsten des weiblichen Geschlechtes verschoben. Daß durch die weibliche Konkurrenz die wirtschaftliche Lage der Männer verschlechtert werde und somit immer weniger Männer einen eigenen Hausstand gründen können, war allerdings nicht zu leugnen. Aber wenn ein Mädchen nicht durch Vermögen vom Vater her versorgt ist und keinen eigenen Erwerb hat, fällt die Aufgabe ihrer Erhaltung gewöhnlich einem Bruder oder männlichen Verwandten anheim. Der Nachteil, den der Mann durch die weibliche Konkurrenz im Erwerbsleben erleidet, wenn die unversorgten Mädchen ihren Unterhalt selbständig verdienen, ist also doch der geringere für ihn, um so mehr, als die Gründung eines eigenen Hausstandes häufig nur durch die Mitarbeit der erwerbenden Frau möglich wird.

Überdies begann sich das erwachende Persönlichkeitsgefühl der Frauen vielfach gegen die wirtschaftliche Abhängigkeit und die damit zusammenhängende Bevormundung durch den Mann zu sträuben. In der Familie waren die weiblichen Personen von ihrem Ernährer abhängig; die gesetzlichen Bestimmungen der Vorkriegszeit aber stellte sie auf eine Stufe mit Kindern und Unmündigen.

Zunächst handelte es sich um Eroberung zweier Gebiete:
um das Fr a u e n s t u d i u m und das F r a u e n w a h l r e c h t.

Daß Frauen, die ihren eigenen Unterhalt erwerben und die gleichen Steuern wie die Männer zahlen, auch die Möglichkeit besitzen müssen, ihre Interessen im öffentlichen Leben durch das Wahlrecht zu vertreten, erscheint bei unvoreingenommener Betrachtung als etwas Selbstverständliches. Dennoch stieß diese Forderung auf eine fanatische Gegnerschaft, die wohl nur daraus zu erklären ist, daß Inhaber von Privilegien – in diesem Fall die Männer – nicht geneigt sind, freiwillig der sozialen Gerechtigkeit nachzugeben. Die heftigsten Kämpfe um das Frauenwahlrecht haben sich an der Wende des Jahrhunderts in England abgespielt und das leidenschaftlich hartnäckige Auftreten der Suffragettes, die dafür Gefängnisstrafen abzubüßen hatten, ist wohl noch vielen erinnerlich. Auf dem Festland befand sich der Kampf um das Frauenwahlrecht erst im Anfangsstadium, als der Weltkrieg ausbrach. Der Umsturz, der diesem folgte, schenkte den Frauen bei den meisten daran beteiligten Ländern das Wahlrecht ohne weitere Kämpfe – vielleicht sogar zu früh für jene Kreise der weiblichen Bevölkerung, die noch nicht darauf vorbereitet und über seine Bedeutung aufgeklärt waren.

Ganz anders verhielt es sich mit dem Frauen Studium – eine Forderung, die, älter als jene des Wahlrechtes, in jahrzehntelangen Kämpfen schrittweise dem zähen Widerstand der Privilegiumsinhaber abgerungen wurde. Das Frauenstudium brachte mit der äußersten Gegnerschaft die unglaublichsten Vorurteile, ja Wahnvorstellungen über das weibliche Geschlecht zutage, von denen sich auch akademisch gebildete Männer nicht freihielten. Unter den Universitätsstudenten war der Unmut beim ersten Erscheinen weiblicher Studenten so groß, daß es an einigen Orten, wie beispielsweise in Halle, bis zu Tumulten mit Tätlichkeiten kam.

Man hat in dem Widerstand gegen die Zulassung der Frauen zu den akademischen Berufen ein Symptom der Konkurrenzfurcht erblickt. Doch war die Forderung des Frauenstudiums nicht nur unter dem Gesichtspunkt des Brotstudiums zu betrachten – wie denn nicht oft genug betont werden kann, daß der Ausgangspunkt der Frauenbewegung nicht ein wirtschaftliches Motiv, sondern ein ethisch kulturelles war. Sie forderte die Freiheit der Selbstbestimmung nach individueller Begabung auch für die Frauen und brach das Vorurteil, daß Begabung und Beruf der Frau einzig das Hauswesen sei.

Trotz des ungeheuren Druckes, der in Gestalt religiöser und sozialer Gebote auf dem weiblichen Geschlecht lastete, hatte sich auch unter den Frauen jene Entwicklung vollzogen, die eine Begleiterscheinung fortgeschrittener Kultur ist – die Entwicklung vom Typischen zum Individuellen, zur differenzierten Persönlichkeit. Von der Anschauung ausgehend, daß unter den Frauen ebensoviele individuelle Verschiedenheiten des Charakters und der Begabung bestehen wie unter den Männern, hat die Frauenbewegung alle Generalurteile über „das Weib“ abgelehnt. Es ist gar nicht zu sagen, was für Verwirrung, Mißverstehen, Phrasenhaftigkeit durch diese Methode der Generalisierung in die Frauenfrage hineingetragen wurde. Immer noch hört man: „der Mann“, „das Weib“ – und nach dieser Schablone werden namentlich die Frauen beurteilt. Zur Zeit der Frauenbewegung hat man nach dieser Schablone den Frauen insgesamt das Recht abgestritten, ihr Leben nach dem inneren Gesetze eigenen Wesens zu gestalten und einen Beruf nach individueller Begabung zu wählen.

Soweit die Frauenbewegung die gesetzliche Gleichberechtigung des weiblichen Geschlechtes mit dem männlichen zum Inhalt hatte, ist ihr Ziel erreicht und ihre in Vereinen organisierte Tätigkeit abgeschlossen. Aber der Sinn der Frauenbewegung erschöpft sich nicht in der gesetzlichen Gleichberechtigung – ganz abgesehen davon, daß diese Gleichberechtigung noch keineswegs ganz verwirklicht ist. Denn ein gewaltiges, nicht zu unterschätzendes Hindernis der Gleichberechtigung liegt in der geistig-seelischen Konstitution der vielen Männer, die in der Frau nichts anderes anerkennen wollen als ein Mittel für ihre Zwecke. Daß eine Frau eigenberechtigte Persönlichkeit sein kann, erscheint ihnen überflüssig, ja sie leugnen geradezu, daß Frauen etwas um einer Sache willen, aus eigenem geistigen Trieb, ohne Hinblick auf männliche Wünsche und Forderungen, zu tun imstande seien. Die gesetzliche Gleichberechtigung war nur die Voraussetzung, unter der die besonderen Aufgaben der Frauenbewegung verwirklicht werden konnten, Aufgaben, die erst ihre eigentliche Bedeutung sichtbar machen. Es handelt sich nun darum, gegenüber den männlichen Lebenswerten, die bisher die menschlichen Verhältnisse bestimmten, spezifisch weibliche Lebenswerte durchzusetzen. Nicht, daß eine Anzahl weiblicher Gelehrter, Erfinder, Techniker, Künstler, Arbeiter aller Art neben den männlichen wirken, ist die Hauptsache in der Frauenfrage, sondern daß alle Frauen, wo immer ihre Tätigkeit sich abspielt, ihre spezifisch weiblichen Lebenswerte in der Allgemeinheit zur Geltung bringen. Denn durch die gesetzliche Gleichberechtigung an sich wird die natürliche Ungleichheit der Geschlechter im sozialen Leben nicht beseitigt. Die Natur hat das weibliche Geschlecht mit der ganzen Last der Fortpflanzung beladen und den Mann von allen damit verbundenen Leiden freigelassen. Die Folgen dieser Ungleichheit von Natur aus sind unabsehbar; sie reichen viel tiefer, als sich bei oberflächlicher Betrachtung erkennen läßt.

Daher muß sich die alte Frauenbewegung, die um die sozialen Rechte der Frauen kämpfte, in eine neue, viel ausgedehntere Bewegung verwandeln, deren Inhalt die sozialen Pflichten der Frauen bilden. Wer die ausgedehnte Tätigkeit der Frauen auf allen Gebieten sozialer Fürsorge kennt, wird einsehen, daß es sich um ein planbewußtes Vorgehen handelt. Am deutlichsten tritt diese in der größten und wichtigsten dieser Aufgaben hervor, in dem Kampf gegen den Krieg. Wenn sich die Frauen auf ihre wahre Mission in der Welt besinnen, so werden sie erkennen, daß die Natur selbst gerade durch die generative Belastung die Frau zur vorbestimmten Feindin des Krieges gemacht hat. Der Frau muß geborenes Leben teurer sein als dem Mann, weil die Natur nur sie mit den Leiden und Beschwerden, die seine Entstehung kostet, beladen hat.

Die Ziele der neuen Frauenbewegung liegen in der Zukunft, ihrer Verwirklichung näher oder ferner. Je ferner, desto mehr Mut und Ausdauer erfordern sie; der Kampf um ideelle Güter aber ist so wertvoll wie das Ziel, denn er ist ein Mittel der Entwicklung in der Menschheit.

(Quelle: Mayreder, Rosa (1930): Nachwort zur Frauenbewegung. – In: Die Frau im Staat : eine Monatsschrift, Nr. 12, S. 4 – 6)

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