Gisela v. Slatow: Protestschreiben. Bundeskonferenz der AKTION 218

Herrn Bundesminister der Justiz
Gerhard Jahn
53 Bonn
Rosenburg

Frankfurt, den 10.07.1971

Sehr geehrter Herr Minister, Heute, am 10.07.1971, haben sich in Frankfurt zum zweiten Mail auf Bundesebene Delegierte der Aktion 218 getroffen. Sie vertreten Aktionsgruppen aus folgenden Städten: Baden-Baden, Berlin, Bonn, Bremen, Darmstadt, Dortmund, Düsseldorf, Eschborn, Frankfurt, Freiburg i. Br., Gießen, Hamburg, Hannover, Heidelberg, Karlsruhe, Köln, Marburg, München, Stuttgart und Wuppertal.

Sie repräsentieren heute, 6 Wochen nach Beginn der Aktion,
86.000 Solidaritätserklärungen
2.345 Selbstanzeigen von Frauen
973 Selbstanzeigen von Männern.

Mit Bedauern stellen wir fest, daß der Bundesjustizminister zu der Forderung nach Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs noch immer nicht Stellung bezogen hat. Mit Überraschung hingegen haben wir vermerkt, daß die F.D.P. als Koalitionspartner bedeutend sensibler reagiert hat.

Die AKTION 218 und ihr weitreichender Erfolg sind der Beweis dafür, daß Frauen den vom Staat auferlegten Gebärzwang nicht länger als ihr individuelles Problem begreifen. Erstmals beanspruchen wir Frauen, nicht als Stimmvieh behandelt zu werden, sondern uns als aktive, politische Bürger zu artikulieren. Deshalb werden wir mehr als bisher das Programm Ihrer Partei kritisch betrachten und es daraufhin prüfen, wie weit es unseren Verfassungsgeboten zu Sozialstaatlichkeit und Gerechtigkeit entspricht.

Können Sie es als Bundesjustizminister weiterhin verantworten, daß bei einer Dunkelziffer von ca. 1.000.000 Abtreibungen jährlich nur 0,99% Bürger nach dem § 218 StGB verfolgt und verurteilt werden. Jede solche Verurteilung „Im Namen des Volkes“ verletzt die Verfassungsgebote der Rechtsgleichheit, der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit. Jede Strafverfolgung nach § 218 StGB verletzt das Rechtsstaatsprinzip. Die bloße Existenz dieser Strafbestimmung kriminalisiert Millionen unserer Mitbürger.

Das Problem wird nicht gelöst durch einen Indikationenkatalog, der dazu führt, daß sich die Frauen vor Gremien rechtfertigen müssen und diese Gremien allein über das Schicksal der Frauen entscheiden. Eine umfassende Sozialgesetzgebung muß einhergehen mit der Streichung des § 218 StGB.

Wir fordern daher:

1. Der § 218 StGB muß ersatzlos gestrichen werden
2. Der Schwangerschaftsabbruch muß von allen Krankenkassen getragen werden
3. Die Eingriffe müssen von Fachärzten vorgenommen werden
4. Die Verhütungsmittel müssen frei zugänglich sein
5. Die Pille muß ebenfalls von den Krankenkassen getragen werden

Wir fordern weiter:mehr Kindergartenplätze, Hilfe für kinderreiche Familien und ledige Mütter und Schwangerschaftsurlaub von mindestens einem Jahr für Mutter und Vater. Wir fordern Sie auf, die AKTION 218 zu einem Hearing einzuladen.

Für uns Frauen ist der § 218 StGB nicht nur eine eklatante Ungerechtigkeit, sondern eine permanente Bedrohung und Unterdrückung. Wir Frauen werden uns nicht mit Ersatzlösungen abspeisen lassen. Wir werden uns nicht beschwichtigen lassen, wir werden Sie in dieser Sache nicht zur Ruhe kommen lassen.

Für die 96 Delegierten aus 20 Städten
i.A.
gez. Gisela v. Slatow

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